Deutsch (allemand)

Mappemonde mettant en évidence la Roumanie et l’Italie.

Die Tristes und die Pon­ti­schen Briefe, oder Rom am Ufer des Schwarzen Meeres

Aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt

Es war ein­mal, un­ter der Herr­schaft des Au­gus­tus, ein Mann, der sich für glü­ck­lich hal­ten konn­te: Pu­blius Ovi­dius Naso, ge­nannt Ovid. Als Mo­de­dich­ter im schö­nen Jahr­hun­dert der la­tei­ni­schen Po­e­sie, lu­sor amorum (Sän­ger der Lieb­schaf­ten), hatte seine scherz­hafte Fe­der Rom er­obert, und seine Leich­tig­keit, Verse zu ma­chen, grenzte ans Wun­der­ba­re: „ich ver­suchte in Prosa zu schrei­ben, aber die Worte füg­ten sich so ge­nau ins Vers­maß, dass das, was ich schrieb, Verse wa­ren“. Ver­mö­gen, Ge­burt, be­rühmte Freun­de, ein Haus ne­ben dem Ka­pi­tol – nichts fehlte die­sem rö­mi­schen Rit­ter, der ein si­che­re­res und be­que­me­res Le­ben ge­noss als je zu­vor.

Den­noch durch­lief ei­nes Mor­gens im Jahr 8 un­se­rer Zeit­rech­nung, als Rom er­wach­te, eine un­heil­volle Nach­richt die Stra­ßen: Das Lieb­lings­kind der Mu­sen, da­mals fünf­zig­jäh­rig, war so­eben un­ter kai­ser­li­cher Es­korte ab­ge­reist. Nicht zu ei­nem gol­de­nen Ru­he­stand an ir­gend­ei­nem mil­den Ge­sta­de, son­dern zu ei­ner relegatio (Ver­ban­nung)1Die relegatio (Ver­ban­nung) un­ter­schied sich, ob­wohl sie dem exilium (E­xil) äh­nel­te, recht­lich da­von: Sie führte we­der zum Ver­lust der Staats­bür­ger­schaft noch zur Be­schlag­nahme der Gü­ter. Ovid, dem man in die­sen bei­den Punk­ten Gnade ge­währt hat­te, ach­tete dar­auf zu prä­zi­sie­ren, dass er nur miss­bräuch­lich von sei­nen Zeit­ge­nos­sen als Exi­lier­ter be­zeich­net wur­de: quippe re­le­ga­tus, non ex­ul, di­cor in illo (es heißt nicht, dass ich ver­bannt bin, son­dern nur re­le­gier­t). Aber wozu eine Un­ter­schei­dung be­ach­ten, die er nur aus Eh­ren­punkt mach­te? Er selbst hat sich da­von be­freit: a pa­tria fugi vic­tus et exul ego (ich Be­sieg­ter und Flücht­ling sehe mich aus mei­nem Va­ter­land ver­bannt); exul eram (ich war im Exil). nach Tomi2Das heu­tige Con­stanța in Ru­mä­ni­en., ei­nem ei­si­gen Städt­chen an der äu­ßers­ten Grenze des Rei­ches, an den un­wirt­li­chen Ufern des Schwa­r­zen Mee­res.3Als er ein letz­tes Mal das Ka­pi­tol grüß­te, sprach der Ver­bannte die­sen Ab­schied aus, den Goe­the sich beim ei­ge­nen Ab­schied von der Ewi­gen Stadt zu ei­gen ma­chen wird: „Große Göt­ter, die ihr die­sen er­ha­be­n­en, mei­nem Haus so na­hen Tem­pel be­wohnt, und den meine Au­gen fortan nicht mehr se­hen wer­den; […] ihr, die ich ver­las­sen muss, […] be­freit mich, ich flehe euch an, vom Hass Cä­sars; das ist die ein­zige Gna­de, die ich von euch beim Ab­schied er­bit­te. Sagt die­sem gött­li­chen Mann, wel­cher Irr­tum mich ver­führt hat, und lasst ihn wis­sen, dass mein Feh­ler nie­mals ein Ver­bre­chen war“.

Das Geheimnis der Ungnade

Was war die Ur­sa­che die­ser relegatio ohne Ur­teil, al­lein durch den Wil­len des Au­gus­tus, und wel­chen Grund hatte die­ser Für­st, Rom und sei­nen Hof ei­nes so gro­ßen Dich­ters zu be­rau­ben, um ihn bei den Ge­ten ein­zu­sper­ren? Das weiß man nicht und wird man nie­mals wis­sen. Ovid er­wähnt ein car­men et er­ror (ein Ge­dicht und eine Un­vor­sich­tig­keit), rät­sel­haft mur­melnd:

Ach! warum habe ich ge­se­hen, was ich nicht se­hen durf­te? Warum sind meine Au­gen schul­dig ge­wor­den? Warum schließ­lich habe ich durch meine Un­vor­sich­tig­keit er­fah­ren, was ich nie­mals hätte wis­sen sol­len?

Ovi­de. Les Élé­gies d’O­vide pen­dant son exil [t. I, Élé­gies des Tris­tes] (Die Ele­gien Ovids wäh­rend sei­nes Exils [Bd. I, Ele­gien der Tris­tes]), übers. aus dem La­tei­ni­schen von Jean Ma­rin de Ker­vil­lars. Pa­ris: d’Houry fils, 1723.

Wenn Die Lie­bes­kunst, ein Jahr­zehnt zu­vor ver­öf­fent­licht, das carmen oder der of­fi­zi­elle Vor­wand war, bleibt der error oder die wahre Schuld ein im Grab des Dich­ters ver­sie­gel­tes Rät­sel:

Das Ver­bre­chen Ovids be­stand un­be­streit­bar dar­in, et­was Schänd­li­ches in der Fa­mi­lie des Oc­ta­vius ge­se­hen zu ha­ben […]. Die Ge­lehr­ten ha­ben nicht ent­schie­den, ob er Au­gus­tus mit ei­nem jun­gen Kna­ben ge­se­hen hatte […]; oder ob er ir­gend­ei­nen Stall­knecht in den Ar­men der Kai­se­rin Li­via ge­se­hen hat­te, die die­ser Au­gus­tus schwan­ger von ei­nem an­de­ren ge­hei­ra­tet hat­te; oder ob er die­sen Kai­ser Au­gus­tus mit sei­ner Toch­ter oder En­ke­lin be­schäf­tigt ge­se­hen hat­te; oder schließ­lich, ob er die­sen Kai­ser Au­gus­tus bei et­was Schlim­me­rem ge­se­hen hat­te, torva tu­en­ti­bus hir­cis [un­ter den fins­te­ren Bli­cken der Bö­cke].

Vol­taire. Œu­vres com­plètes de Vol­tai­re, vol. 45B, […] D’O­vi­de, de So­crate […] (Vol­tai­res Ge­samt­wer­ke, Bd. 45B, […] Über Ovid, über So­kra­tes […]). Ox­ford: Vol­taire Foun­da­ti­on, 2010.

Ver­ges­sen wir also die ebenso zahl­rei­chen wie selt­sa­men Hy­po­the­sen de­rer, die um je­den Preis ein zwei­t­au­send­jäh­ri­ges Ge­heim­nis er­ra­ten wol­len. Es ge­nügt zu wis­sen, dass Ovid in den Qua­len des Exils, in den Schluch­zern der Ein­sam­keit, keine an­dere Zu­flucht fand als seine Po­e­sie, und dass er sie ganz dazu ver­wen­de­te, einen Kai­ser zu be­sänf­ti­gen, des­sen Groll er sich zu­ge­zo­gen hat­te. „Die Göt­ter las­sen sich manch­mal er­wei­chen“, sagte er sich. Dar­aus ent­stan­den die Tristes (Tristia)4Ver­wor­fene For­men:
Les Cinq Li­vres des Tris­tes (Die fünf Bü­cher der Tris­tes).
Tris­tium li­bri quin­que (V).
De Tris­ti­bus li­bri quin­que (V).
und die Pon­ti­schen Briefe (Epi­stulæ ex Ponto)5Ver­wor­fene For­men:
Lett­res du Pont (Briefe vom Pon­tus).
Élé­gies écri­tes dans la pro­vince de Pont (In der Pro­vinz Pon­tus ge­schrie­bene Ele­gien).
Les Qua­tre Li­vres d’épîtres écri­tes dans la pro­vince de Pont (Die vier Bü­cher der in der Pro­vinz Pon­tus ge­schrie­be­nen Brie­fe).
Pon­ticæ epis­tolæ.
De Ponto li­bri qua­tuor (IV).
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Chronik eines ewigen Winters: Das Drama von Tomi

Die Ele­gien Ovids wäh­rend sei­nes Exils sind das Ta­ge­buch ei­nes Man­nes, ver­lo­ren fern der Sei­nen, fern ei­ner Zi­vi­li­sa­ti­on, de­ren lie­bens­wür­digs­ter Ver­tre­ter er einst war; eine lange Kla­ge, ge­rich­tet an seine Gat­tin, an seine in Rom ver­blie­be­nen Freunde und an eine un­er­bitt­li­che Macht, von der er ver­geb­lich Milde er­war­tet. Tomi prä­sen­tiert sich dort als ein „Land vol­ler Bit­ter­keit“, stets ge­schla­gen von den Win­den und vom Ha­gel ei­nes ewi­gen Win­ters, und wo selbst der Wein, „vom Frost ver­stei­nert“, zu Eis er­starrt, das man mit der Axt zer­schla­gen muss. Der Dich­ter fühlt sich dort als ab­so­lu­ter Frem­der; ein Ge­fan­ge­ner, der das La­tein­spre­chen ver­lernt in­mit­ten ba­r­ba­ri­scher Worte und schreck­li­cher Schreie der Ge­ten:

sie un­ter­hal­ten sich un­ter­ein­an­der in ei­ner ih­nen ge­mein­sa­men Spra­che; ich aber kann mich nur durch Ges­ten und Zei­chen ver­ständ­lich ma­chen; ich gelte hier als Ba­r­bar, und [die­se] un­ver­schäm­ten Ge­ten la­chen über die la­tei­ni­schen Wor­te.

Ovi­de. Les Élé­gies d’O­vide pen­dant son exil [t. I, Élé­gies des Tris­tes] (Die Ele­gien Ovids wäh­rend sei­nes Exils [Bd. I, Ele­gien der Tris­tes]), übers. aus dem La­tei­ni­schen von Jean Ma­rin de Ker­vil­lars. Pa­ris: d’Houry fils, 1723.

Angesichts der Widrigkeiten

Wo­her nahm Ovid den Mut, der nö­tig war, um ein so grau­sa­mes Un­g­lück zu er­tra­gen? Aus dem Schrei­ben:

[Wenn Sie mich] fra­gen, was ich hier tue, werde ich Ih­nen sa­gen, dass ich mich mit Stu­dien be­schäf­ti­ge, die dem An­schein nach we­nig nütz­lich sind, die aber den­noch ih­ren Nut­zen für mich ha­ben; und wenn sie nur dazu dien­ten, mich mein Un­g­lück ver­ges­sen zu las­sen, wäre das kein ge­rin­ger Vor­teil: nur zu glü­ck­lich, wenn ich durch die Be­a­r­bei­tung ei­nes so un­frucht­ba­ren Fel­des we­nigs­tens ei­nige Früchte dar­aus zie­he.

Ovi­de. Les Élé­gies d’O­vide pen­dant son exil, t. II, Élé­gies pon­ti­ques (Die Ele­gien Ovids wäh­rend sei­nes Exils, Bd. II, Pon­ti­sche Ele­gien), übers. aus dem La­tei­ni­schen von Jean Ma­rin de Ker­vil­lars. Pa­ris: d’Hou­ry, 1726.

Im Üb­ri­gen ist der ehe­ma­lige rö­mi­sche Dandy nicht völ­lig ver­schwun­den: Ele­ganz, ge­suchte Wen­dun­gen, mehr geist­rei­che als so­lide Ver­glei­che be­ste­hen fort, manch­mal bis zum Über­maß. Schon Quin­ti­lian ur­teil­te, er sei we­ni­ger mit sei­nen ei­ge­nen Lei­den be­schäf­tigt als ama­tor in­ge­nii sui (ver­liebt in sein ei­ge­nes Ge­ni­e). Laut Se­neca dem Äl­te­ren kannte Ovid „das Über­schwäng­li­che in sei­nen Ver­sen“, ar­ran­gierte sich aber da­mit: „Er sag­te, dass eine Ge­stalt manch­mal durch ein Schön­heits­fleck­chen viel hüb­scher ge­macht werde“. Diese Be­stän­dig­keit, sei­nen Ge­dan­ken eine ge­wisse Wen­dung, ein ge­wis­ses „Schönheitsfleckchen“ zu ge­ben, auf fran­zö­si­sche Art – „man könnte fast sa­gen, er sei un­ter uns ge­bo­ren“, be­merkt der Über­set­zer Jean Ma­rin de Ker­vil­lars – ist das letzte Zei­chen sei­ner Per­sön­lich­keit, die er­klärte Wei­ge­rung, die Ent­fer­nung von der Haupt­stadt den Künst­ler ver­nich­ten zu las­sen. Und nach­dem er diese Ent­fer­nung so oft als eine Art Tod be­schrie­ben hat, fin­det er schließ­lich Rom am Ufer des Schwa­r­zen Mee­res und schließt: „das Land, wo­hin mich das Schick­sal ge­stellt hat, muss mir als Rom gel­ten. Meine un­g­lü­ck­li­che Muse be­gnügt sich mit die­sem The­a­ter […]: so ist der gute Wille ei­nes mäch­ti­gen Got­tes.6Re­si­gnier­ter als ent­schlos­sen ging er nicht so weit, wie Hugo über seine Tür zu schrei­ben: EXI­LIUM VITA EST (DAS EXIL IST DAS LE­BEN oder DAS LE­BEN IST EIN EXIL).

Mappemonde mettant en évidence le Japon.

Das Unsagbare sagen: Hi­ro­shi­ma: Som­mer­blu­men von Hara Tamiki

Aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt

Es gibt Er­eig­nisse in der Ge­schichte der Mensch­heit, die die Grenze des­sen zu mar­kie­ren schei­nen, was die Spra­che aus­zu­drü­cken ver­mag. Der Ab­grund öff­net sich, und die Wor­te, lä­cher­lich ge­wor­den, schei­nen vor dem Grauen zu­rück­zu­wei­chen. Hi­ro­shima ist ein sol­cher Ab­grund. Den­noch ha­ben ei­nige an­ge­sichts des Un­sag­ba­ren die zwin­gende Pflicht ge­spürt, Zeug­nis ab­zu­le­gen, nicht um zu er­klä­ren, son­dern um nicht zu­zu­las­sen, dass die Stille das Werk der Zer­stö­rung voll­en­det. An vor­ders­ter Stelle die­ser Wäch­ter steht Hara Ta­miki (1905-1951), ein Über­le­ben­der, des­sen un­ter dem Ti­tel Hi­ro­shi­ma: Som­mer­blu­men ver­sam­mel­ten Er­zäh­lun­gen einen der Grün­dungs­akte des­sen dar­stel­len, was die Kri­tik als „Li­te­ra­tur der Atom­bom­be“ (gen­baku bungaku)1Die „Li­te­ra­tur der Atom­bom­be“ be­zeich­net die aus dem Trauma von 1945 ent­stan­de­nen Wer­ke. Ge­tra­gen von Über­le­ben­den wie Hara Ta­miki und Ôta Yô­ko, wurde die­ses Genre lange Zeit von den li­te­ra­ri­schen Krei­sen als „min­der­wer­tig, lo­kal, do­ku­men­ta­risch“ be­ur­teilt. Seine Stärke liegt ge­rade in sei­nem Ver­such, „die Gren­zen der Spra­che, ihre Zu­fäl­lig­kei­ten, ihre Män­gel“ an­ge­sichts des Grau­ens zu hin­ter­fra­gen und sich gleich­zei­tig zu be­mü­hen, sie zu be­he­ben, wie Ca­the­rine Pin­guet be­tont.
Ver­wor­fene For­men:
Li­te­ra­tur des Atoms.
Gem­baku bungaku.
be­zeich­nen wird. Als Tri­lo­gie „ei­ner Welt, die nicht auf­hört zu bren­nen2Fo­rest, Phil­ip­pe, „Quel­ques fleurs pour Hara Ta­mi­ki“ (Ei­nige Blu­men für Hara Ta­mi­ki), a.a.O., er­zählt das Werk – be­ste­hend aus Vor­spiel zur Zer­stö­rung (Kai­metsu no jo­kyoku), Sommerblumen (Natsu no hana) und Ruinen (Hai­kyo kara) – in drei Zei­ten das Da­vor, das Wäh­rend und das Da­nach.

Eine Schrift der Detonation

Ha­ras Stil ist nicht der ei­ner be­herrsch­ten Schrift, son­dern ein „Ab­stieg in die zer­brech­li­che Psy­che ei­nes ver­zwei­fel­ten Man­nes“, der mit ent­setz­lich ent­stell­ten, fast un­kennt­li­chen Land­schaf­ten kon­fron­tiert ist, in de­nen es ihm un­mög­lich scheint, die Spu­ren sei­nes Le­bens wie­der­zu­fin­den, wie es noch we­nige Au­gen­bli­cke zu­vor war. Seine zer­ris­sene Schrift, die kei­ner­lei Ori­en­tie­rungs­punkte bie­tet, hat als Ku­lisse eine selbst ver­nich­tete Stadt, „ver­schwun­den ohne Spu­ren zu hin­ter­las­sen – au­ßer ei­ner Art fla­chen Schicht aus Trüm­mern, Asche, ver­bo­ge­nen, ge­platz­ten, zer­fres­se­nen Din­gen“, um die Worte von Ro­bert Guil­lain auf­zu­grei­fen, dem ers­ten Fran­zo­sen vor Ort. Auf diese Lein­wand der Ver­wüs­tung pro­ji­ziert Hara mal „Fet­zen un­ter­bro­che­ner Exis­ten­zen“, mal Er­in­ne­rungs­frag­men­te, die die Leer­stel­len ei­ner zer­ris­se­nen Wirk­lich­keit fül­len.

Diese sti­lis­ti­sche De­kon­struk­tion er­reicht ih­ren Hö­he­punkt, wenn Hara in den po­e­ti­schen Ein­schü­ben eine be­son­dere Form des Ja­pa­ni­schen an­nimmt – die Ka­ta­ka­na, die nor­ma­le­r­weise frem­den Wör­tern vor­be­hal­ten sind, als sei die üb­li­che Spra­che un­ge­eig­net ge­wor­den:

Fun­kelnde Trüm­mer
/ deh­nen sich zu ei­ner wei­ten Land­schaft
Helle Asche
Wer sind diese ver­brann­ten Kör­per mit ro­hem Fleisch?
Selt­sa­mer Rhyth­mus to­ter Men­schen­kör­per
Exis­tierte all das?
Hat all das exis­tie­ren kön­nen?
Ein Au­gen­blick und es bleibt eine ge­schun­dene Welt

Ha­ra, Ta­mi­ki, Hi­ro­shima : fleurs d’été : ré­cits (Hi­ro­shi­ma: Som­mer­blu­men: Er­zäh­lun­gen), übers. aus dem Ja­pa­ni­schen von Bri­gitte Al­lioux, Ka­rine Ches­neau und Ro­se-Ma­rie Ma­ki­no-Fa­yol­le, Arles: Ac­tes Sud, Reihe „Babel“, 2007.

Wäh­rend Hara im In­ne­ren des Feu­ers­ofens die­ses dan­teske Schau­spiel er­litt, ver­such­ten die er­schüt­ter­ten In­tel­lek­tu­el­len am an­de­ren Ende der Welt, das Er­eig­nis zu den­ken. Am 8. Au­gust 1945 schrieb Al­bert Ca­mus in Combat: „Die me­cha­ni­sche Zi­vi­li­sa­tion hat so­eben ih­ren letz­ten Grad an Wild­heit er­reicht. Es wird not­wen­dig sein, in ei­ner mehr oder we­ni­ger na­hen Zu­kunft zwi­schen dem kol­lek­ti­ven Selbst­mord oder der in­tel­li­gen­ten Nut­zung der wis­sen­schaft­li­chen Er­run­gen­schaf­ten zu wäh­len. In der Zwi­schen­zeit ist es er­laubt zu den­ken, dass es eine ge­wisse Un­an­stän­dig­keit gibt, auf diese Weise eine Ent­de­ckung zu fei­ern, die sich zu­nächst in den Dienst der ge­wal­tigs­ten Zer­stö­rungs­wut stellt, die der Mensch je be­wie­sen hat3Ca­mus’ Leit­ar­ti­kel wurde nur zwei Tage nach dem Bom­bar­de­ment und vor dem von Na­gasaki auf der Ti­tel­seite der Zei­tung Combat ver­öf­fent­licht. Er bie­tet das ge­naue Ge­gen­teil der Re­ak­tion ei­nes Groß­teils der Pres­se, wie Le Monde, die am sel­ben Tag mit „Eine wis­sen­schaft­li­che Re­vo­lu­ti­on“ ti­tel­te. In­dem er sich ge­gen die Be­geis­te­rung der Zeit stell­te, er­wies sich Ca­mus als ei­ner der promp­tes­ten und klars­ten In­tel­lek­tu­el­len im Mo­ment des An­bruchs des Nu­klea­r­zeit­al­ters.. Hara phi­lo­so­phiert nicht, er zeigt; und was er zeigt, ist ge­nau diese „Zerstörungswut“, wie eine Klinge ins Fleisch der Men­schen ge­pflanzt.

Einige Blumen auf dem weitesten aller Gräber

Die zen­trale Er­zäh­lung, Sommerblumen, be­ginnt mit ei­ner in­ti­men Trau­er: „Ich ging in die Stadt hin­aus und kaufte Blu­men, denn ich hatte be­schlos­sen, zum Grab mei­ner Frau zu ge­hen“. Für Hara hatte das Ende der Welt be­reits ein Jahr zu­vor be­gon­nen. Er hatte seine Frau Sa­dae ver­lo­ren – die sei­nem Her­zen teu­erste Per­son – und mit ihr die reins­ten Freu­den die­ses Le­bens. Die Ka­ta­s­tro­phe vom 6. Au­gust 1945 ist also kein aus dem Nichts auf­ge­tauch­ter Bruch, son­dern die mon­s­tröse Ver­stär­kung ei­nes per­sön­li­chen Dra­mas, das sich mit dem kol­lek­ti­ven Drama der Op­fer der Atom­bombe ver­mischt und pa­ra­do­xer­weise zu ei­nem Da­seins­grund wird, ei­ner Dring­lich­keit zu spre­chen. „‚Ich muss all das schrift­lich hin­ter­las­sen’, sagte ich mir“, sich den Mut ge­bend, noch ei­nige Jahre zu le­ben. Seine Schrift ist nicht mehr nur ein Kla­ge­lied in­mit­ten der Ru­i­nen; sie ver­wan­delt sich in ein Denk­mal für Hi­ro­shi­ma, ei­nige für die Ewig­keit nie­der­ge­legte Blu­men auf dem wei­tes­ten al­ler Grä­ber; in einen Akt des Wi­der­stands auch ge­gen das Schwei­gen, sei es von der Zen­sur der ame­ri­ka­ni­schen Be­sat­zungs­trup­pen auf­er­legt4Nach der Ka­pi­tu­la­tion von 1945 er­rich­te­ten die ame­ri­ka­ni­schen Be­sat­zungs­be­hör­den einen Press Co­de, der meh­rere Jahre lang die Ver­brei­tung von allzu ro­hen In­for­ma­ti­o­nen und Zeug­nis­sen über die Aus­wir­kun­gen der Bom­bar­die­run­gen ver­bot und da­mit die Ver­öf­fent­li­chung zahl­rei­cher Wer­ke, dar­un­ter die von Ha­ra, ver­zö­ger­te. „Also im Stil­len lei­den“, fasst die Psy­cho­lo­gin Nayla Chi­diac in ih­rem Buch L’É­cri­ture qui guérit (Das hei­lende Schrei­ben) zu­sam­men, das Hara ein gan­zes Ka­pi­tel wid­met. oder ge­bo­ren aus der Dis­kri­mi­nie­rung ge­gen­über den „A­to­mi­sier­ten“ (hibakusha), de­ren Stig­mata Angst und Ab­leh­nung her­vor­rie­fen.

Schweigen der Toten, Schweigen Gottes

Doch diese Mission, die ihn am Le­ben hielt, er­drückte ihn schließ­lich. 1951 un­ter­zeich­net er einen Ab­schieds­brief, ver­folgt vom Ge­spenst ei­nes neuen Hi­ro­shima mit dem Aus­bruch des Ko­re­a­krie­ges: „Es ist jetzt Zeit für mich, im Un­sicht­ba­ren zu ver­schwin­den, in der Ewig­keit jen­seits“. Kurz dar­auf wirft er sich vor einen Zug. Seine letzte Ge­ste, wie der No­bel­preis­trä­ger Ôé Kenz­ab­urô schrei­ben wird, war ein letz­ter Pro­test­schrei „ge­gen die blinde Dumm­heit der Mensch­heit“.

Wenn die Stim­men der Zeu­gen ver­stum­men, flüch­tet sich die Er­in­ne­rung in die Ob­jek­te, die das Ver­bre­chen hin­ter­las­sen hat. Jahr­zehnte spä­ter ist es diese ma­te­ri­elle Er­in­ne­rung, mit der sich der Pries­ter Mi­chel Quo­ist bei sei­nem Be­such im Mu­seum der Atom­bombe kon­fron­tiert sieht. Er ist er­schüt­tert von der Vi­sion „von Uh­ren, Pen­del­uh­ren, We­ckern“, de­ren Zei­ger für im­mer auf 8:15 Uhr ste­hen­ge­blie­ben sind: „Die Zeit ist an­ge­hal­ten“. Die­ses ein­drucks­volle Bild ist viel­leicht die tref­fendste Me­ta­pher für Ha­ras Be­mü­hen, den ver­häng­nis­vol­len Au­gen­blick zu kris­tal­li­sie­ren. Es ist das­selbe Bild, das Quo­ist zu ei­nem la­pi­da­ren Ge­dicht in per­fek­ter Re­so­nanz mit Hi­ro­shi­ma: Som­mer­blu­men in­spi­rie­ren wird:

Un­ter­bro­che­nes, aus­ge­lösch­tes Volk
/ Staub
/ Schat­ten
/ Nacht
/ Nichts
Schwei­gen der To­ten
Schwei­gen Got­tes

Warum schweigt ihr, ihr To­ten? Ich will eure Stimme hö­ren!
Schreit!
Brüllt!
Sagt uns, dass es un­ge­recht ist!
Sagt uns, dass wir ver­rückt sind! […]
ES IST NACHT ÜBER HI­RO­SHIMA

Quoist, Mi­chel, À cœur ou­vert (Mit of­fe­nem Her­zen), Pa­ris: Les Édi­ti­ons ou­vrières, 1981.

Mappemonde mettant en évidence le Japon.

Die Morgenröte des mittelalterlichen Japan in seinen Epen

Aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt

Die fried­li­che Hei­an-Zeit (794-1185) en­dete in ei­ner Feu­ers­brunst. Am Ende von Schlach­ten von sel­te­ner Ge­walt ver­dräng­ten zwei ri­va­li­sie­rende Häu­ser, die Taïra und die Mi­na­mo­to, nach­ein­an­der die Ho­fa­ri­s­to­kra­tie, die we­der über eine aus­rei­chende Ar­mee noch über eine ge­nü­gende Po­li­zei ver­füg­te, und be­wirk­ten das Auf­kom­men des Feu­dal­re­gi­mes. So be­ginnt das ja­pa­ni­sche Mit­tel­al­ter. Diese Zeit der Um­wäl­zun­gen war der­art, dass man „im deut­schen Mit­tel­al­ter gra­ben müss­te, um eine ähn­li­che Ver­wir­rung zu fin­den“. Auf die Ver­fei­ne­rung der weib­li­chen Li­te­ra­tur von Heian folg­ten von nun an männ­li­che Er­zäh­lun­gen vol­ler „Morde“, „Listen“, „wun­der­sa­mer Waf­fen­ta­ten“ und „lang vor­be­rei­te­ter Ra­che­akte“ – „Quelle der Ver­le­gen­heit und Ver­wir­rung für die His­to­ri­ker“.

Mit dem Rosenkranz in der Hand und dem Schwert am Gürtel

Aus die­sem Tu­mult ent­stan­den die „Krie­ger­er­zäh­lun­gen“ (gunki mo­no­ga­tari), die sich an der Kreu­zung von his­to­ri­scher Chro­nik, na­ti­o­na­lem Epos und tie­fer bud­dhis­ti­scher Me­di­ta­tion be­fin­den. Ihre Funk­tion war üb­ri­gens we­ni­ger li­te­ra­risch, im Sinne wie wir es ver­ste­hen, als viel­mehr me­mo­ri­ell und spi­ri­tu­ell: Es ging vor al­lem dar­um, „die See­len der in den Kämp­fen ge­fal­le­nen Krie­ger zu be­sänf­ti­gen […]“ und für die Über­le­ben­den „einen Sinn in den chao­ti­schen Er­eig­nis­sen zu su­chen, die der al­ten Ord­nung ein Ende setz­ten“. Diese Funk­tion ob­lag den „biwa-Mön­chen“ (biwa hôshi oder biwa bôzu), Sän­gern, die im All­ge­mei­nen blind wa­ren. Un­se­ren Trou­ba­dou­ren von einst ähn­lich, durch­zo­gen sie das Land und de­kla­mier­ten mit sin­gen­der Stimme die Hel­den­ta­ten der Ver­gan­gen­heit. In eine Mönchs­robe gehüllt, zwei­fel­los um sich un­ter den Schutz der Tem­pel und Klös­ter zu stel­len, be­glei­te­ten sie sich mit ih­rer vier­sai­ti­gen Lau­te, der biwa1Ge­bo­ren im Kö­nig­reich Per­sien und sei­nen Grenz­re­gi­o­nen, ver­brei­tete sich die biwa in Ost­asien ent­lang der Sei­den­stra­ße. In China per­fek­tio­niert, ge­langte sie um das 8. Jahr­hun­dert in den ja­pa­ni­schen Ar­chi­pel“. Hyôdô, Hi­ro­mi, „Les moi­nes jou­eurs de biwa (biwa hôshi) et Le Dit des Heike“ (Die biwa-spie­len­den Mön­che (biwa hôshi) und Das Hei­ke-Epos) in Bris­set, Clai­re-Aki­ko, Bro­t­ons, Ar­naud und Stru­ve, Da­niel (Hrs­g.), op. cit., de­ren Ak­korde die Me­lan­cho­lie der Er­zäh­lung un­ter­mal­ten.

Im Her­zen des Re­per­toires, das diese Künst­ler von Meis­ter zu Schü­ler wei­ter­ga­ben, zeich­net eine fun­da­men­tale Tri­lo­gie die bru­der­mör­de­ri­schen Kämpfe nach, die den Ar­chi­pel in eine neue Ära stürz­ten: Das Hô­gen-Epos (Hô­gen mo­no­ga­tari)2Ver­wor­fene For­men:
Ré­cit des trou­bles de l’ère Ho­gen (Er­zäh­lung der Wir­ren der Hô­gen-Ära).
La Chro­ni­que des Ho­gen (Die Hô­gen-Chro­ni­k).
Ré­cit de l’ère Hô­gen (Er­zäh­lung der Hô­gen-Ära).
Hi­s­to­ire de la guerre de l’é­po­que Hô­gen (Ge­schichte des Krie­ges der Hô­gen-Zeit).
Hôghen mo­no­ga­tari.
Hôg­henn mo­no­ga­tari.
, Das Hei­ji-Epos (Heiji mo­no­ga­tari)3Ver­wor­fene For­men:
Épopée de la ré­bel­lion de Heiji (Epos der Hei­ji-Re­bel­li­o­n).
La Chro­ni­que des Heigi (Die Hei­gi-Chro­ni­k).
Ré­cit de l’ère Heiji (Er­zäh­lung der Hei­ji-Ära).
Ré­cits de la guerre de l’ère Heiji (Er­zäh­lun­gen des Krie­ges der Hei­ji-Ära).
Heïdji mo­no­ga­tari.
Heizi mo­no­ga­tari.
und das be­rühm­teste von al­len, Das Hei­ke-Epos (Heike mo­no­ga­tari)4Ver­wor­fene For­men:
Le Dit des Heikke (Das Heik­ke-E­pos).
L’A­ven­ture d’Heike (Das Hei­ke-A­ben­teu­er).
Hi­s­to­ire des Heike (Ge­schichte der Hei­ke).
Con­tes du Heike (Er­zäh­lun­gen vom Hei­ke).
Con­tes des Heike (Er­zäh­lun­gen der Hei­ke).
La Chro­ni­que des Heiké (Die Hei­ké-Chro­ni­k).
La Chro­ni­que de Heiké (Die Chro­nik von Hei­ké).
Chro­ni­ques du clan Heike (Chro­ni­ken des Hei­ke-Klans).
La Geste de la mai­son des Héï (Die Geste des Hau­ses der Héï).
Geste de la fa­mille des Hei (Geste der Fa­mi­lie der Hei).
Hi­s­to­ire de la fa­mille des Hei (Ge­schichte der Fa­mi­lie der Hei).
Hi­s­to­ire de la fa­mille Heiké (Ge­schichte der Fa­mi­lie Hei­ké).
Hi­s­to­ire de la mai­son des Taira (Ge­schichte des Hau­ses der Tai­ra).
Hi­s­to­ire de la fa­mille des Taïra (Ge­schichte der Fa­mi­lie der Taïra).
Ré­cit de l’hi­s­to­ire des Taira (Er­zäh­lung der Ge­schichte der Tai­ra).
Ro­man des Taira (Ro­man der Tai­ra).
La Geste des Taïra (Die Geste der Taïra).
Feike no mo­no­ga­tari.
. Die ers­ten bei­den mö­gen pro­sa­isch er­schei­nen, wenn sie be­schrei­ben, wie die Taïra und die Mi­na­moto sich nach und nach in die mi­li­tä­ri­sche Macht ein­schlei­chen, bis sie einen ent­schei­den­den Ein­fluss auf die An­ge­le­gen­hei­ten des Ho­fes er­lan­gen, be­rei­ten aber nichts­des­to­we­ni­ger das kom­mende Drama vor und ber­gen be­reits diese „Sen­si­bi­li­tät für das Ver­gäng­li­che“ (mono no aware), die im Heike-Epos ih­ren voll­en­dets­ten Aus­druck fin­den wird:

Die Welt, in der wir le­ben
Hat nicht mehr Exis­tenz
Als ein Mond­s­trahl
Der sich im Was­ser spie­gelt
Ge­schöpft in der hoh­len Hand.

Le Dit de Hô­gen; Le Dit de Heiji (Das Hô­gen-E­pos; Das Hei­ji-E­pos), übers. aus dem Ja­pa­ni­schen von René Sief­fert, Pa­ris: Pu­bli­ca­ti­ons ori­en­ta­lis­tes de Fran­ce, 1976; Neu­aufl. La­gras­se: Ver­dier, Reihe „Ver­dier po­che“, 2007.

Die Vergänglichkeit als Schicksal

Als mo­nu­men­ta­les Werk, wahre Aeneis der Bür­ger­kriege und er­bit­ter­ten Kämp­fe, die die bei­den Häu­ser zer­ris­sen und in der Schlacht von Dan-no-ura (25. April 1185) gip­fel­ten, weicht Das Hei­ke-Epos den­noch ra­di­kal von der west­li­chen Tra­di­tion ab. An­statt wie Ver­gil mit den arma vi­rum­que (den Waf­fen und dem Mann) zu be­gin­nen, er­in­nert die ja­pa­ni­sche Chro­nik schon in ih­rer ers­ten Zeile an „die Ver­gäng­lich­keit al­ler Dinge“: „Der Stolze währt für­wahr nicht lan­ge, gleich nur dem Traum ei­ner Früh­lings­nacht“. Die Per­so­nen, große wie nied­ri­ge, wer­den alle vom sel­ben Stru­del mit­ge­ris­sen und il­lus­trie­ren aufs Neue, dass nach Bos­su­ets For­mel:

Die Zeit wird kom­men, wo die­ser Mann, der euch so groß er­schien, nicht mehr sein wird, wo er wie das Kind sein wird, das noch nicht ge­bo­ren ist, wo er nichts sein wird. […] Ich bin nur ge­kom­men, um die Zahl zu ver­voll­stän­di­gen, noch hatte man mei­ner nicht be­durft; […] wenn ich aus der Nähe schaue, scheint es mir ein Traum zu sein, mich hier zu se­hen, und al­les, was ich se­he, sind nur eitle Trug­bil­der: Prae­te­rit enim fi­gura hu­jus mundi (Denn sie ver­geht, diese Welt, wie wir sie se­hen)51 Kor 7,31 (La Bi­ble: tra­duc­tion of­fi­ci­elle li­tur­gi­que (Die Bi­bel: of­fi­zi­elle li­tur­gi­sche Über­set­zung)).“.

Bos­su­et, Jac­ques Bé­nig­ne, Œu­vres com­plètes (Ge­samt­wer­ke), Bd. IV, Pa­ris: Le­fèvre; Fir­min Di­dot frères, 1836.

So gleicht Das Hei­ke-Epos ei­ner fort­wäh­ren­den Pre­digt, in der alle Wech­sel­fälle im Le­ben der Hel­den dazu die­nen, die­ses Ge­setz der Ver­gäng­lich­keit (mujô) und die Ei­tel­keit mensch­li­chen Ruhms zu il­lus­trie­ren. Der Fall von Taïra no Ta­da­nori (1144-1184) ist in die­ser Hin­sicht bei­spiel­haft. Vom Feind über­rascht, do­mi­niert er sei­nen Geg­ner, aber ir­gend­ein Die­ner des­sel­ben greift ein und schlägt ihm den rech­ten Arm am Ell­bo­gen ab. Da er sein Ende na­hen weiß, wen­det sich Ta­da­nori nach Wes­ten und ruft mit fes­ter Stimme zehn­mal den Bud­dha an, be­vor er ent­haup­tet wird. An sei­nem Kö­cher be­fes­tigt fin­det man die­ses Ab­schieds­ge­dicht:

Fort­ge­tra­gen von der Fins­ter­nis
Werde ich un­ter
Den Äs­ten ei­nes Bau­mes woh­nen.
Nur Blü­ten
Wer­den mich heute Abend emp­fan­gen.

Hoff­mann, Yo­el, Poè­mes d’a­dieu ja­po­nais: an­tho­lo­gie com­mentée de poè­mes écrits au seuil de la mort (Ja­pa­ni­sche Ab­schieds­ge­dich­te: kom­men­tierte An­tho­lo­gie von Ge­dich­ten, ge­schrie­ben an der Schwelle des To­des), übers. aus dem Eng­li­schen von Agnès Ro­zen­blum, Ma­la­koff: A. Co­lin, 2023.

Eine zwiespältige Nachwirkung

Diese bud­dhis­ti­sche Sen­si­bi­li­tät, die bis in die blu­tigs­ten Sze­nen ein­dringt, ge­nügt je­doch nicht im­mer, um eine Er­zäh­lung zu be­le­ben, die an west­li­che Äs­the­tik ge­wöhn­ten Geis­tern lang­sam, gleich­mä­ßig und ein­tö­nig er­schei­nen kann. Gleich dem Klang der Gi­o­n-Glo­cke ist der Gang der Epen re­gel­mä­ßig, allzu re­gel­mä­ßig so­gar und et­was mo­no­ton. Ich be­dau­re, dass so be­rühmte Er­zäh­lun­gen kei­nen ebenso be­rühm­ten Dich­ter ge­fun­den ha­ben, der sie für im­mer fest­ge­schrie­ben hät­te; dass ih­nen ein Ho­mer fehl­te, der ih­nen eine ewig be­wun­derte Viel­falt und Ge­schmei­dig­keit ver­lie­hen hät­te.

Wie Ge­or­ges Bous­quet be­merkt, ha­ben die ho­me­ri­schen Hel­den oft „selt­same Hei­ter­kei­ten oder Schwä­chen, die uns ihre Mensch­lich­keit mit Hän­den grei­fen las­sen; die der Taïra hö­ren nie auf, kon­ven­ti­o­nell und kalt zu sein“. Wäh­rend der na­ive grie­chi­sche Er­zäh­ler im­mer ein va­ges und fei­nes Lä­cheln hin­ter den Wor­ten durch­schei­nen lässt, „ver­lässt der ja­pa­ni­sche Rhap­sode nie den epi­schen Ton und die steife Hal­tung“. Wo „wie eine Fan­fare die freu­dige Ex­pan­sion des Trou­ba­dours er­klingt, hört man hier nur den me­lan­cho­li­schen Ak­zent des ver­zwei­fel­ten Bud­dhis­ten: ‚Der tap­fere Mann [auch er] bricht schließ­lich zu­sam­men, nicht mehr und nicht we­ni­ger als Staub im Wind’“.

Mappemonde mettant en évidence le Vietnam.

Das Kim-Vân-Kiều oder die enthüllte vietnamesische Seele

Aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt

Es gibt Wer­ke, die in sich die Nei­gun­gen und Be­stre­bun­gen ei­ner gan­zen Na­tion tra­gen, „vom Rik­schafah­rer bis zum höchs­ten Man­da­rin, von der Stra­ßen­händ­le­rin bis zur vor­nehms­ten Dame der Welt“. Sie blei­ben ewig jung und se­hen auf­ein­an­der­fol­gende Ge­ne­ra­ti­o­nen von Ver­eh­rern. So ver­hält es sich mit dem Kim-Vân-Kiều1Ver­wor­fene For­men:
Kim, Ven, Kièou.
Le Conte de Kiêu (Die Er­zäh­lung von Kiêu).
L’Hi­s­to­ire de Kieu (Die Ge­schichte von Kieu).
Le Ro­man de Kiều (Der Ro­man von Kiều).
Truyện Kiều.
Hi­s­to­ire de Thuy-Kiêu (Ge­schichte von Thuy-Kiêu).
Truyên Thuy-Kiêu.
L’Hi­s­to­ire de Kim Vân Kiều (Die Ge­schichte von Kim Vân Kiều).
Kim Vân Kiều truyện.
Nou­velle Hi­s­to­ire de Kim, Vân et Kiều (Neue Ge­schichte von Kim, Vân und Kiều).
Kim Vân Kiều tân-truyện.
La Nou­velle Voix des cœurs brisés (Die neue Stimme der ge­bro­che­nen Her­zen).
Nou­veau Chant du des­tin de mal­heur (Neuer Ge­sang vom Un­g­lücks­schick­sa­l).
Nou­veaux Ac­cents de dou­leurs (Neue Ak­zente des Schmer­zes).
Nou­veau Chant d’une des­tinée mal­heu­reuse (Neuer Ge­sang ei­nes un­g­lü­ck­li­chen Schick­sals).
Nou­veau Chant de souf­france (Neuer Ge­sang des Lei­dens).
Nou­velle Voix des ent­rail­les déchirées (Neue Stimme der zer­ris­se­nen Ein­ge­wei­de).
Nou­veaux Ac­cents de la dou­leur (Neue Ak­zente des Schmer­zes).
Nou­velle Ver­sion des ent­rail­les brisées (Neue Ver­sion der ge­bro­che­nen Ein­ge­wei­de).
Le Cœur brisé, nou­velle ver­sion (Das ge­bro­chene Herz, neue Ver­sion).
Đoạn-trường tân-thanh.
, die­sem Ge­dicht von mehr als drei­tau­send Ver­sen, die die vi­et­na­me­si­sche Seele in all ih­rer Zart­heit, Rein­heit und Selbst­lo­sig­keit zei­gen:

Man muss den Atem an­hal­ten, man muss be­hut­sam schrei­ten, um die Schön­heit des Tex­tes er­fas­sen zu kön­nen, [so] an­mu­tig (dịu dàng), lieb­lich (thuỳ mị), groß­ar­tig (tráng lệ), präch­tig (huy hoàng) ist er.

Du­rand, Mau­rice (Hrs­g.), Mélan­ges sur Nguyễn Du (Mis­zel­len über Nguyễn Du), Pa­ris: École française d’­Ex­trê­me-O­ri­ent, 1966.

Der Au­tor, Nguyễn Du (1765-1820)2Ver­wor­fene For­men:
Nguyên Zou.
Nguyên-Zu.
Hguyen-Du.
Nicht zu ver­wech­seln mit:
Nguyễn Dữ (16. Jahr­hun­der­t), des­sen Um­fang­rei­che Samm­lung wun­der­ba­rer Le­gen­den eine Kri­tik sei­ner Zeit un­ter dem Schleier des Fan­tas­ti­schen ist.
, hin­ter­ließ den Ruf ei­nes me­lan­cho­li­schen und schweig­sa­men Man­nes, des­sen hart­nä­cki­ges Schwei­gen ihm die­sen Ta­del des Kai­sers ein­brach­te: „Sie müs­sen in den Be­ra­tun­gen spre­chen und Ihre Mei­nung äu­ßern. Warum ver­schlie­ßen Sie sich so in Schwei­gen und ant­wor­ten nur mit Ja oder Nein?“ Man­da­rin wi­der Wil­len, sehnte sich sein Herz nur nach der Ruhe sei­ner hei­mat­li­chen Ber­ge. Er kam da­zu, je­nes Ta­lent zu ver­flu­chen, das ihn, in­dem es ihn zu den höchs­ten Äm­tern er­hob, von sich selbst ent­fern­te, bis zu dem Punkt, dar­aus die ab­schlie­ßende Mo­ral sei­nes Meis­ter­werks zu ma­chen: „Mö­gen je­ne, die Ta­lent ha­ben, sich also nicht ih­res Tal­ents rüh­men! Das Wort „tài“ [Ta­lent] reimt sich mit dem Wort „tai“ [Un­g­lü­ck]“. Sich selbst treu blei­bend, ver­wei­gerte er jede Be­hand­lung wäh­rend der Krank­heit, die ihm zum Ver­häng­nis wur­de, und als er er­fuhr, dass sein Kör­per er­kal­te­te, nahm er die Nach­richt mit ei­nem Seuf­zer der Er­leich­te­rung auf. „Gut!“, mur­melte er, und die­ses Wort war sein letz­tes.

Das Epos des Schmerzes

Das Ge­dicht zeich­net das tra­gi­sche Schick­sal von Kiều nach, ei­nem jun­gen Mäd­chen von un­ver­gleich­li­cher Schön­heit und Be­ga­bung. Wäh­rend ihr eine strah­lende Zu­kunft an der Seite ih­rer ers­ten Lie­be, Kim, ver­hei­ßen scheint, klopft das Ver­häng­nis an ihre Tür: Um ih­ren Va­ter und Bru­der vor ei­ner un­ge­rech­ten An­klage zu ret­ten, muss sie sich ver­kau­fen. So be­ginnt für sie eine fünf­zehn­jäh­rige Wan­der­schaft, wäh­rend der sie ab­wech­selnd Die­ne­rin, Kon­ku­bine und Pro­sti­tu­ierte sein wird, von ei­nem Un­g­lück flie­hend, nur um ein schlim­me­res zu fin­den. Den­noch, wie der Lo­tus, der auf dem Schlamm blüht, be­wahrt Kiều in­mit­ten die­ser Er­nied­ri­gung selbst „den rei­nen Duft ih­res ur­sprüng­li­chen Adels“, ge­lei­tet von ei­ner un­er­schüt­te­r­li­chen Über­zeu­gung:

[…] wenn ein schwe­res Karma auf un­se­rem Schick­sal las­tet, wol­len wir nicht ge­gen den Him­mel auf­be­geh­ren und ihn nicht der Un­ge­rech­tig­keit be­zich­ti­gen. Die Wur­zel des Gu­ten liegt in uns selbst.

Nguyễn, Du, Kim-Vân-Kiêu (Kim-Vân-Kiêu), übers. aus dem Vi­et­na­me­si­schen von Xuân Phúc [Paul Schnei­der] und Xuân Viêt [Ng­hiêm Xuân Việt], Pa­ris: Gal­li­mard/U­NES­CO, 1961.

Zwischen Übersetzung und Schöpfung

Wäh­rend ei­ner Ge­sandt­schaft in China ent­deckte Nguyễn Du den Ro­man, der ihm sein Meis­ter­werk in­spi­rie­ren soll­te. Aus ei­ner Er­zäh­lung, die man als ba­nal er­ach­ten könn­te, ver­mochte er ein „un­s­terb­li­ches Ge­dicht / Des­sen Verse so süß sind, dass sie auf der Lip­pe, / Wenn man sie ge­sun­gen hat, einen Ho­nig­ge­schmack hin­ter­las­sen3Dro­in, Al­fred, „Ly-Than-Thong“ in La Jon­que vic­to­rieuse (Die sieg­rei­che Dschun­ke), Pa­ris: E. Fas­quel­le, 1906. zu schaf­fen. Diese chi­ne­si­sche Ab­stam­mung sollte je­doch zum Zank­ap­fel für den er­wa­chen­den Na­ti­o­nal­stolz wer­den. In der Auf­bruch­stim­mung der Jahre 1920-1930 lie­ferte sie den Kri­tik­punkt für die un­nach­gie­bigs­ten Na­ti­o­na­lis­ten, de­ren Wort­füh­rer der Ge­lehrte Ngô Đức Kế wur­de:

Das Thanh tâm tài nhân [Quelle des Kim-Vân-Kiều] ist nur ein in China ver­ach­te­ter Ro­man, und nun er­hebt Vi­et­nam ihn in den Rang ei­nes ka­no­ni­schen Bu­ches, ei­ner Bi­bel, das ist wirk­lich eine große Schan­de.

Phạm, Thị Ngoạn, In­tro­duc­tion au Nam-Phong, 1917-1934 (Ein­füh­rung in Nam-Phong, 1917-1934), Sai­gon: So­ciété des étu­des in­do­chi­noi­ses, 1973.

In Wahr­heit ist das Kim-Vân-Kiều über seine ent­lehn­ten oder an­züg­li­chen Pas­sa­gen hin­aus vor al­lem das Echo der vom vi­et­na­me­si­schen Volk er­lit­te­nen Un­ge­rech­tig­kei­ten. „Die Ge­sänge der Dorf­be­woh­ner ha­ben mich die Spra­che von Jute und Maul­beere ge­lehrt / Wei­nen und Schluch­zen auf dem Land be­schwö­ren Kriege und Trauer her­auf“, schreibt Nguyễn Du in ei­nem an­de­ren Ge­dicht4Es han­delt sich um das Ge­dicht „Tag der Rei­nen Kla­r­heit“ („Thanh minh ngẫu hứng“). Das Fest der Rei­nen Kla­r­heit ist je­nes, an dem die Fa­mi­lien die Ah­nen eh­ren, in­dem sie aufs Land ge­hen, um de­ren Grä­ber zu pfle­gen.. Durch­gän­gig er­scheint im Epos diese vi­brie­ren­de, oft herz­zer­rei­ßende Sen­si­bi­li­tät ei­nes Dich­ters, des­sen Herz im Ein­klang mit dem Lei­den schwingt, das ver­wor­ren in den be­schei­de­nen Mas­sen schwelte, wie diese Pas­sage be­zeugt:

Das Schilf presste seine glei­chen Spit­zen im rauen Hauch des Nord­winds zu­sam­men. Die ganze Trau­rig­keit ei­nes Herbst­him­mels schien ei­nem ein­zi­gen We­sen [Kiều] vor­be­hal­ten. Ent­lang der nächt­li­chen Etap­pen, wäh­rend eine Kla­r­heit vom schwin­del­er­re­gen­den Fir­ma­ment fiel und die Fer­nen sich in ei­nem Ne­bel­meer ver­lo­ren, ließ der Mond, den sie sah, sie sich ih­rer Schwüre vor Flüs­sen und Ber­gen schä­men.

Nguyễn, Du, Kim-Vân-Kiêu (Kim-Vân-Kiêu), übers. aus dem Vi­et­na­me­si­schen von Xuân Phúc [Paul Schnei­der] und Xuân Viêt [Ng­hiêm Xuân Việt], Pa­ris: Gal­li­mard/U­NES­CO, 1961.

Ein Spiegel für das Volk

Das Schick­sal des Kim-Vân-Kiều war der­art, dass es den Be­reich der Li­te­ra­tur ver­las­sen hat, um zu ei­nem Spie­gel zu wer­den, in dem sich je­der Vi­et­na­mese er­kennt. Ein Volks­lied hat seine Lek­türe so zu ei­ner wah­ren Le­bens­kunst er­ho­ben, un­trenn­bar von den Freu­den des Wei­sen: „Um ein Mann zu sein, muss man „tổ tôm“5Vi­et­na­me­si­sches Kar­ten­spiel für fünf Spie­ler. In der ge­ho­be­nen Ge­sell­schaft sehr be­liebt, er­for­dert es an­geb­lich viel Ge­dächt­nis und Scha­rf­sinn. spie­len kön­nen, Yun­nan-Tee trin­ken und das Kiều de­kla­mie­ren“ (Làm trai biết đánh tổ tôm, uống trà Mạn hảo, ngâm nôm Thúy Kiều). Der Aber­glaube hat sich so­gar sei­ner be­mäch­tigt und aus dem Buch ein Ora­kel ge­macht: In Mo­men­ten der Un­ge­wiss­heit ist es nicht sel­ten, dass man es aufs Ge­ra­te­wohl öff­net, um in den Ver­sen, die sich dar­bie­ten, eine Ant­wort des Schick­sals zu su­chen. So hat das Ge­dicht es ver­stan­den, sich vom Ka­bi­nett des Ge­lehr­ten bis zur be­schei­den­s­ten Be­hau­sung un­ent­behr­lich zu ma­chen. Dem Ge­lehr­ten Phạm Quỳnh ver­dan­ken wir die be­rühmt ge­blie­bene For­mel, die die­ses Ge­fühl zu­sam­men­fasst:

Was ha­ben wir zu be­fürch­ten, wor­über müs­sen wir be­sorgt sein? So­lange das Kiều bleibt, bleibt un­sere Spra­che; so­lange un­sere Spra­che bleibt, be­steht un­ser Land fort.

Thái, Bình, „De quel­ques aspects phi­lo­so­phi­ques et re­li­gieux du chef-d’œu­vre de la lit­téra­ture vi­et­na­mi­en­ne: le Kim-Vân-Kiều de Nguyễn Du“ (Über ei­nige phi­lo­so­phi­sche und re­li­gi­öse Aspekte des Meis­ter­werks der vi­et­na­me­si­schen Li­te­ra­tur: das Kim-Vân-Kiều von Nguyễn Du), Mes­sage d’­Ex­trê­me-O­ri­ent, Nr. 1, 1971, S. 25-38; Nr. 2, 1971, S. 85-97.

Mappemonde mettant en évidence le Japon.

Am Rande der Träume: Die Wiedergänger des Ueda Akinari

Aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt

Es ist oft am Ran­de, wo sich die ei­gen­tüm­lichs­ten Ge­nies ein­nis­ten. Als Sohn ei­nes un­be­kann­ten Va­ters und ei­ner allzu be­kann­ten Mut­ter – ei­ner Kur­ti­sane aus dem Ver­gnü­gungs­vier­tel – sah Ueda Aki­nari (1734-1809)1Ver­wor­fene For­men:
Aki­nari Ou­e­da.
Ueda Tôsa­ku.
Uy­eda Aki­na­ri.
seine Mut­ter nur ein ein­zi­ges Mal, als er be­reits ein er­wach­se­ner Mann und be­rühm­ter Schrift­stel­ler war. Von ei­ner Kauf­manns­fa­mi­lie aus Osaka ad­op­tiert, war seine Exis­tenz von die­ser ur­sprüng­li­chen Schande ge­prägt, über die seine Feinde sich nicht scheu­ten, ihn an­zu­grei­fen: „Meine Feinde sa­gen von mir: Er ist ein Gast­hof­kind; noch schlim­mer, er ist ir­gend­ein Spross ei­nes über­al­ter­ten Zu­häl­ters! Wor­auf ich ant­wor­te: […] je­den­falls bin ich in mei­nem Berg der ein­zige Ge­ne­ral und kenne mir dort kei­nen Eben­bür­ti­gen“. Dazu kam eine Be­hin­de­rung an den Fin­gern2Eine Be­hin­de­rung, die er zur Schau tra­gen wird, in­dem er sein Meis­ter­werk mit dem Pseud­onym Senshi Ki­jin un­ter­schreibt, das heißt der Be­hin­derte mit den de­for­mier­ten Fin­gern., die ihm die per­fekte Kal­li­gra­phie ver­wehrte und ihn pa­ra­do­xer­wei­se, den stol­zen jun­gen Mann, der we­nig zum Han­del neig­te, zu ei­ner hart­nä­cki­gen in­tel­lek­tu­el­len und li­te­ra­ri­schen Su­che führ­te. Aus die­ser zer­rüt­te­ten Exis­tenz, aus die­ser wun­den Sen­si­bi­li­tät, wird sein Meis­ter­werk ent­ste­hen, die Ge­schich­ten von Re­gen und Mond (Ugetsu mo­no­ga­tari)3Ver­wor­fene For­men:
Con­tes des mois de pluie (Ge­schich­ten der Re­gen­mo­na­te).
Con­tes de la lune vague après la pluie (Ge­schich­ten vom ver­schwom­me­nen Mond nach dem Re­gen).
Con­tes de la lune et de la pluie (Ge­schich­ten vom Mond und vom Re­gen).
Con­tes de pluies et de lune (Ge­schich­ten von Re­gen und Mon­d).
Con­tes de la lune des pluies (Ge­schich­ten vom Mond der Re­gen).
Con­tes de lune et de pluie (Ge­schich­ten von Mond und Re­gen).
Con­tes du clair de lune et de la pluie (Ge­schich­ten vom Mond­schein und vom Re­gen).
Ue­gutsu mo­no­ga­tari.
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Von Quellen und Träumen

Diese neun fan­tas­ti­schen Er­zäh­lun­gen, 1776 ver­öf­fent­licht, mar­kie­ren einen Wen­de­punkt in der Li­te­ra­tur der Edo-Zeit. Aki­na­ri, der mit den „Er­zäh­lun­gen der flie­ßen­den Welt“ bricht, ei­nem da­mals in Mode be­find­li­chen fri­vo­len Gen­re, be­grün­det die Ma­nier des yomihon, oder „Lesebuch“, das sich an ein ge­bil­de­tes Pu­bli­kum rich­tet, dem er einen Raum für Träume und Flucht bie­tet. Die Ori­gi­na­li­tät sei­nes An­sat­zes liegt in ei­ner meis­ter­haf­ten Syn­these zwi­schen den chi­ne­si­schen Er­zähl­tra­di­ti­o­nen und dem ja­pa­ni­schen li­te­ra­ri­schen Er­be. Ob­wohl er reich­lich aus den fan­tas­ti­schen Ge­schich­ten­samm­lun­gen der Ming- und Qing-Dy­nas­tien schöpft, wie den Ge­schich­ten beim Lö­schen der Kerze (Ji­an­deng xin­hua), be­gnügt er sich nie­mals mit ei­ner ein­fa­chen Über­set­zung oder ei­ner ser­vi­len Ad­ap­ti­on. Jede Er­zäh­lung ist voll­stän­dig ja­pa­ni­siert, in einen na­ti­o­na­len his­to­ri­schen und geo­gra­fi­schen Rah­men trans­po­niert und vor al­lem durch eine ein­zig­ar­tige Me­lan­cho­lie ver­klärt.

Zu den kon­ti­nen­ta­len Quel­len mischt Aki­nari mit voll­en­de­ter Kunst die Re­mi­nis­zen­zen der klas­si­schen Li­te­ra­tur sei­nes Lan­des. Der Ein­fluss des -The­a­ters ist über­all spür­bar, nicht nur in den Ges­ten und Phy­sio­gno­mien – rach­süch­tige Geis­ter, Geis­ter von Krie­gern, ver­zwei­felte Lie­bende –, son­dern auch in der Kom­po­si­tion der Ge­schich­ten selbst, die kunst­voll die Ent­fer­nung von der Welt und die dra­ma­ti­sche Stei­ge­rung bis zur Er­schei­nung des Über­na­tür­li­chen ar­ran­gie­ren. Ebenso ist die ele­gante und blu­mige Prosa (gabun) eine vi­brie­rende Hom­mage an das gol­dene Zeit­al­ter der Hei­an-Zeit und be­son­ders an die Ge­schichte vom Prin­zen Genji (Genji mo­no­ga­tari).

Eine geisterhafte Menschlichkeit

Was bei den Ge­schich­ten von Re­gen und Mond auf­fällt, ist, dass die Welt der Geis­ter nie­mals ganz von der der Le­ben­den ge­trennt ist. Weit da­von ent­fernt, ein­fa­che Mons­ter zu sein, sind Aki­na­ris Ge­spens­ter mit ei­ner kom­ple­xen Per­sön­lich­keit aus­ge­stat­tet, oft rei­cher und ori­gi­nel­ler als die der Men­schen, die sie heim­su­chen. Ihre Er­schei­nun­gen wer­den durch kraft­voll mensch­li­che Ge­fühle mo­ti­viert: Treue über den Tod hin­aus, ver­höhnte Lie­be, ver­zeh­rende Ei­fer­sucht oder un­aus­lösch­li­cher Hass. Das Ge­spenst ist oft nur die Ver­län­ge­rung ei­ner Lei­den­schaft, die sich in der ir­di­schen Welt nicht be­frie­di­gen oder be­ru­hi­gen konn­te. Seine Stim­me, aus dem Jen­seits kom­mend, spricht mit ei­ner be­un­ru­hi­gen­den Mo­der­ni­tät zu uns über uns selbst.

So wie Miya­gi, die ver­las­sene Ehe­frau, die in Das Haus im Schilf sie­ben Jahre auf die Rü­ck­kehr ih­res Man­nes war­tet, der fort­ge­gan­gen ist, um sein Glück zu ma­chen. An Er­schöp­fung und Kum­mer ge­stor­ben, er­scheint sie ihm eine letzte Nacht, be­vor sie nur noch ein Grab­hü­gel ist, auf dem man die­ses herz­zer­rei­ßende Ge­dicht fin­det:

So war es al­so,
Ich wusste es und den­noch wiegte sich mein Herz
In Il­lu­si­o­nen:
In die­ser Welt, bis zu die­sem Tag,
War es also das, das Le­ben, das ich ge­lebt ha­be?

Ue­da, Aki­na­ri. Con­tes de pluie et de lune (Ge­schich­ten von Re­gen und Mond) (Ugetsu mo­no­ga­tari), übers. aus dem Ja­pa­ni­schen von René Sief­fert. Pa­ris: Gal­li­mard, Reihe „Con­nais­sance de l’O­ri­ent. Série ja­po­nai­se“, 1956.

Das Fan­tas­ti­sche bei Aki­nari ist also nicht ein ein­fa­cher Me­cha­nis­mus des Schre­ckens; es ist der Ver­grö­ße­rungs­spie­gel der See­len­qua­len. Die Ge­spens­ter kom­men, um die Le­ben­den an ihre Ver­säum­nisse zu er­in­nern, an die mo­ra­li­schen Kon­se­quen­zen ih­rer Ta­ten. Die Ra­che ei­ner be­tro­ge­nen Ehe­frau oder die Loy­a­li­tät ei­nes Freun­des, der sich das Le­ben nimmt, um sein Ver­spre­chen zu hal­ten, sind ebenso viele Pa­ra­beln über die Kraft der Ver­pflich­tun­gen und die Fa­ta­li­tät der Lei­den­schaf­ten.

Der Ziseleur der Chimären

Aki­na­ris Stil ist zwei­fel­los das, was dem Werk seine Be­stän­dig­keit ver­leiht. Er ver­bin­det die No­blesse der klas­si­schen Spra­che mit ei­nem vom ge­erb­ten Rhyth­mus­ge­fühl und schafft eine ein­zig­ar­tige Mu­sik, die den Le­ser ver­zau­bert. Schon der Ti­tel, Ugetsu, „Re­gen und Mond“, über­setzt diese be­zau­bernde Me­lo­die in ein Bild – das ei­nes Mond­scheins, der sich im Mur­meln ei­nes fei­nen Re­gens trübt und einen ide­a­len Rah­men für die Ma­ni­fes­ta­ti­o­nen des Über­na­tür­li­chen schafft, eine ge­spens­ti­sche Welt, in der die Gren­zen zwi­schen Traum und Wirk­lich­keit ver­schwim­men.

Als un­ab­hän­gi­ger Künst­ler brauchte Aki­nari fast zehn Jah­re, um sein Meis­ter­werk zu po­lie­ren, ein Zei­chen für die Be­deu­tung, die er ihm bei­maß. Eine in­tel­lek­tu­elle Un­ab­hän­gig­keit, die sich auch in sei­nen hef­ti­gen Po­le­mi­ken mit dem an­de­ren gro­ßen Ge­lehr­ten sei­ner Zeit, Mo­toori No­ri­na­ga, ma­ni­fes­tier­te, ei­nem Na­ti­o­na­lis­ten avant la lettre. Wäh­rend letz­te­rer die Ah­nen­my­then Ja­pans zur „ein­zi­gen Wahr­heit“ er­hob, ver­spot­tete Aki­nari die­ses Ide­al, in­dem er be­haup­te­te, dass „in je­dem Land der Geist der Na­tion ihr Ge­stank ist“. So hat die­ser Sohn ei­ner Kur­ti­sane es ver­stan­den, al­lein durch die Kraft sei­ner Kunst sich als zen­trale Fi­gur durch­zu­set­zen, ein „per­fek­ter An­a­r­chist4Der Aus­druck stammt von Al­fred Jarry über Ubu, könnte aber durch eine ge­wagte Ana­lo­gie den Geist der voll­stän­di­gen Un­ab­hän­gig­keit Aki­na­ris qua­li­fi­zie­ren., der, in­dem er mit den Kon­ven­ti­o­nen spiel­te, die fan­tas­ti­sche Er­zäh­lung zu ei­nem un­er­reich­ten Grad der Ver­fei­ne­rung ge­bracht hat. Seine Ei­gen­hei­ten, die in ei­ner ja­pa­ni­schen Ge­sell­schaft, die Kon­for­mi­tät zur höchs­ten Tu­gend er­hob, be­son­de­ren Mut er­for­der­ten, konn­ten nicht um­hin, Yu­kio Mis­hima zu fas­zi­nie­ren, der in Das mo­derne Ja­pan und die Sa­mu­rai-Ethik (Haga­kure nyū­mon) ge­steht, Aki­na­ris Werk „wäh­rend der Bom­bar­die­run­gen“ bei sich ge­tra­gen und vor al­lem sei­nen „be­wuss­ten Ana­chro­nis­mus“ be­wun­dert zu ha­ben. Die Ge­schich­ten von Re­gen und Mond sind nicht nur eine An­tho­lo­gie des Gen­res; sie sind ein neu er­fun­de­nes Bild der Er­zäh­lung auf ja­pa­ni­sche Art, wo das Wun­der­bare und das Ma­ka­bre mit der de­li­ka­tes­ten Po­e­sie wett­ei­fern und den Le­ser un­ter dem dau­e­r­haf­ten Bann ei­nes selt­sa­men und präch­ti­gen Traums las­sen.

Mappemonde mettant en évidence l’Iran et la France.

Von Isfahan nach Ménilmontant: Die Reise des Ali Erfan

Aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt

Der Ori­ent mit sei­nen Ge­heim­nis­sen und Qua­len hat seit je­her die west­li­che Vor­stel­lungs­kraft ge­nährt. Aber was wis­sen wir wirk­lich über das zeit­ge­nös­si­sche Per­si­en, über die­ses Land der Po­e­sie, das zum Schau­platz ei­ner Re­vo­lu­tion wur­de, die die Welt­ord­nung er­schüt­ter­te? Ein Fens­ter zu die­sem von Wi­der­sprü­chen durch­drun­ge­nen Iran öff­net uns das Werk von Ali Er­fan, Schrift­stel­ler und Fil­me­ma­cher1Filmemacher: Eine Epi­sode ver­an­schau­licht die di­rek­ten Be­dro­hun­gen, die auf dem Künst­ler las­te­ten und sein Exil be­schleu­nig­ten. Als sein zwei­ter Film im Iran ge­zeigt wur­de, er­klärte der an­we­sende Kul­tur­mi­nis­ter am Ende im Saal: „Die ein­zige weiße Wand, auf die noch nicht das Blut der Un­rei­nen ver­gos­sen wur­de, ist die Ki­no­le­in­wand. Wenn man die­sen Ver­rä­ter hin­rich­tet und diese Lein­wand rot wird, wer­den alle Fil­me­ma­cher ver­ste­hen, dass man nicht mit den In­ter­es­sen des mus­li­mi­schen Vol­kes spie­len kann“., ge­bo­ren 1946 in Is­fahan und seit 1981 zum Exil in Frank­reich ge­zwun­gen. Sein Werk, ge­schrie­ben in ei­ner fran­zö­si­schen Spra­che, die er sich zu ei­gen ge­macht hat, ist ein er­grei­fen­des Zeug­nis von sel­te­ner Fein­heit über die Tra­gö­die ei­nes Vol­kes und die Lage des Exilan­ten.

Das Schreiben als Widerstand

In sei­ner Kunst, die von Ty­ran­nei und der Ab­sur­di­tät des Fa­na­tis­mus ge­quäl­ten See­len zu er­grün­den, se­hen viele in Ali Er­fan den wür­di­gen Er­ben des gro­ßen Sa­degh He­da­yat2Sa­degh He­da­yat: Va­ter der mo­der­nen ira­ni­schen Li­te­ra­tur, be­gra­ben auf dem Père-Lachaise in Pa­ris.. Sein Schrei­ben von un­er­bitt­li­cher Roh­heit taucht uns in eine düs­tere und be­drü­cken­de, fast kaf­ka­eske Welt ein – die ei­ner Ge­sell­schaft, die dem Ter­ror aus­ge­lie­fert ist, der durch die „hal­lu­zi­nierte Phi­lo­so­phie der Imame“ er­rich­tet wur­de: seien es die ver­folg­ten Frauen in Ma femme est une sainte (Meine Frau ist eine Hei­li­ge), die un­ter­drück­ten Künst­ler in Le Der­nier Poète du monde (Der letzte Dich­ter der Welt) oder die ver­fluch­ten Ge­stal­ten der Damnées du pa­ra­dis (Die Ver­damm­ten des Pa­ra­die­ses). Der Tod, der diese Er­zäh­lun­gen durch­dringt, ist nicht nur der der Ge­walt al­lein, son­dern der des to­ta­li­tä­ren Staa­tes, der sie her­vor­bringt, die­ses Ge­bäu­de, das, um sich zu er­he­ben, einen Ze­ment aus Kör­pern be­nö­tigt. Es ist der­selbe Ze­ment, den wir in Sans om­bre (Ohne Schat­ten) fin­den, ei­nem kraft­vol­len Zeug­nis über den Iran-I­rak-Krieg, die­ses „ent­setz­li­che Mas­sen­grab“, ver­gleich­bar mit den Gra­ben­kämp­fen des Ers­ten Welt­kriegs, das das Blut Hun­dert­tau­sen­der Men­schen ge­trun­ken hat:

Es gab auch Frei­wil­li­ge, die in der Ab­sicht zu ster­ben den Bo­den aus­ho­ben, um Lö­cher wie Grä­ber zu ma­chen, die sie ‚Braut­ge­mach für die Lie­ben­den Got­tes’ nann­ten.

Aber es spielte keine Rol­le, wel­chen Sinn je­der sei­ner vor­über­ge­hen­den Be­hau­sung gab; er musste sein Loch in Rich­tung Mekka gra­ben und nicht in Rich­tung des Fein­des, der ge­gen­über war.

Er­fan, Ali. Sans om­bre (Ohne Schat­ten), La Tour-d’Ai­gues: Édi­ti­ons de l’Au­be, Reihe „Re­gards cro­i­sés“, 2017.

Wenn Ali Er­fan nicht die Freude des Glau­bens hat, so ist das sein Man­gel, oder viel­mehr sein Un­g­lück. Aber die­ses Un­g­lück hat eine sehr ernste Ur­sa­che, näm­lich die Ver­bre­chen, die er im Na­men ei­ner Re­li­gion hat be­ge­hen se­hen, de­ren Ge­bote ent­stellt und von ih­rer wah­ren Be­deu­tung ab­ge­lenkt wur­den, wo­bei der Glaube zum Wahn­sinn wur­de:

Er öff­nete ohne Eile eine der di­cken Ak­ten, ent­nahm ihr ein Blatt, prüfte es und rief plötz­lich:

– Sperrt diese Frau in einen Ju­te­sack und werft Steine auf sie, bis sie wie ein Hund kre­piert. […]

Und er fuhr fort, wie­der­holte die­selbe Ge­ste, schwenkte die Schrift des­sen, der zu Gott ge­reist war, er­griff eine an­dere […]. Er er­hob sich plötz­lich, stand auf dem Tisch und schrie wie ein Ver­rück­ter:

– Der Va­ter soll sei­nen Sohn mit sei­nen ei­ge­nen Hän­den er­wür­gen…

Er­fan, Ali. Le Der­nier Poète du monde (Der letzte Dich­ter der Welt), aus dem Per­si­schen über­setzt vom Au­tor und Michèle Cri­s­to­fa­ri, La Tour-d’Ai­gues: Édi­ti­ons de l’Au­be, Reihe „L’Aube po­che“, 1990.

Vom Exil und von der Erinnerung

Das Exil ist eine Wun­de, die sich nie­mals ganz schließt. In Adieu Mé­nil­mon­tant (Le­be­wohl Mé­nil­mon­tant) ver­lässt Ali Er­fan für eine Zeit sein hei­mat­li­ches Per­si­en, um uns von Frank­reich zu er­zäh­len, sei­nem Zu­fluchts­land. Der Ro­man ist eine Hom­mage an die Rue de Mé­nil­mon­tant, die­ses kos­mo­po­li­ti­sche Vier­tel von Pa­ris, wo er ge­lebt und als Fo­to­graf ge­ar­bei­tet hat. Es ist eine zärt­li­che und manch­mal grau­same Chro­nik vom Le­ben der „Ver­irr­ten der Welt“, die­ser Pa­rias des Le­bens, die wie er in die­ser Zu­flucht ge­stran­det sind. Doch selbst in Frank­reich ist der Iran nie­mals fern. Die Ge­rü­che, die Klän­ge, die Ge­sich­ter, al­les er­in­nert an den ver­lo­re­nen Ori­ent. Eine Er­in­ne­rung, die im Kampf ge­gen das Ver­ges­sen die her­vor­ste­chends­ten Merk­male der Ver­gan­gen­heit aus­wählt.

Je­des Mal, wenn er zu schrei­ben be­ginnt, sucht Ali Er­fan die Zeit sei­ner ers­ten Ju­gend. Er kos­tet die Ek­stase der Er­in­ne­rung, das Ver­gnü­gen, die ver­lo­re­nen und ver­ges­se­nen Dinge in der Mut­ter­spra­che wie­der­zu­fin­den. Und da diese wie­der­ge­fun­dene Er­in­ne­rung nicht ge­treu er­zählt, was ge­sche­hen ist, ist sie der wahre Schrift­stel­ler; und Ali Er­fan ist ihr ers­ter Le­ser:

Jetzt kenne ich ihre Spra­che [das Fran­zö­si­sche]. Aber ich will nicht spre­chen. […] Ma­dame sagt: ‚Mein Lieb­ling, sag: Jas­min’. Ich will nicht. Ich will den Na­men der Blume aus­spre­chen, die in un­se­rem Haus war. Wie hieß sie? Warum er­in­nere ich mich nicht? Diese große Blu­me, die in der Ecke des Ho­fes wuchs. Die hoch­stieg, sich dreh­te. Sie klet­terte über die Tür un­se­res Hau­ses und fiel auf die Straße hin­ab. […] Wie hieß sie? Sie duf­tete gut. Ma­dame sagt wie­der: ‚Sag, mein Lieb­ling’. Ich wei­ne, ich wei­ne…

Er­fan, Ali. Le Der­nier Poète du monde (Der letzte Dich­ter der Welt), aus dem Per­si­schen über­setzt vom Au­tor und Michèle Cri­s­to­fa­ri, La Tour-d’Ai­gues: Édi­ti­ons de l’Au­be, Reihe „L’Aube po­che“, 1990.

Das Werk von Ali Er­fan, zu­gleich ein­zig­ar­tig und uni­ver­sal, taucht uns in einen be­drü­cken­den Ori­ent ein, wo die Blei­kappe ei­ner ten­ta­kel­ar­ti­gen Theo­kra­tie las­tet. Ge­wiss könnte man be­fürch­ten, dass der Exil­schrift­stel­ler, trotz sei­ner selbst, nur dazu dient, die Kli­schees der “west­li­chen Is­la­mo­pho­bie“ zu näh­ren — eine These im Zen­trum von Hes­sam No­ghreh­chis “Ist die Exil­li­te­ra­tur eine kleine Li­te­ra­tur?“. Aber wer nur diese Seite der Dinge sä­he, würde das We­sent­li­che ver­pas­sen; denn die per­si­sche Kul­tur hat seit je­her die Tren­nung und das Exil zur Quelle ih­res reins­ten Ge­sangs ge­macht. Dies ist die Lek­tion der Flöte Ru­mis, de­ren er­ha­bene Mu­sik aus ih­rem Stän­gel ge­bo­ren wird, der aus sei­nem hei­mat­li­chen Schilf­rohr ge­ris­sen wur­de: “Höre die Schilf­rohr­flöte eine Ge­schichte er­zäh­len; sie klagt über die Tren­nung: ’Seit man mich vom Schilf­rohr ab­ge­schnit­ten hat, lässt meine Klage Mann und Frau stöh­nen’“. Die Stimme Ali Er­fans wird al­so, wie die die­ser Flö­te, nicht trotz des Ris­ses ge­bo­ren, son­dern ge­rade durch ihn, und ver­wan­delt die Bru­ta­li­tät des Re­a­len in eine er­grei­fende Me­lo­pöe.

Mappemonde mettant en évidence le Sénégal, la France, le Cameroun et la Guinée.

Coups de pi­lon von David Diop, oder das Wort, das zu Fleisch und Zorn wird

Aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt

Das Werk von Da­vid Diop (1927-1960)1Ver­wor­fene For­men:
Da­vid Man­dessi Diop.
Da­vid Léon Man­dessi Diop.
Da­vid Diop Mendes­si.
Da­vid Mam­bessi Diop.
Nicht zu ver­wech­seln mit:
Da­vid Diop (1966-…), Schrift­stel­ler und Uni­ver­si­täts­do­zent, Preis­trä­ger des Prix Gon­court des ly­céens 2018 für sei­nen Ro­man Frère d’âme (See­len­bru­der).
, so kurz wie ful­mi­nant, bleibt ei­nes der er­grei­fends­ten Zeug­nisse der Po­e­sie der mi­li­tan­ten Né­gri­tu­de. Seine ein­zige Samm­lung, Coups de pi­lon (Stö­ßel­schlä­ge) (1956), hallt mit un­ge­bro­che­ner Kraft wi­der, häm­mert auf die Ge­wis­sen ein und fei­ert die un­er­schüt­te­r­li­che Hoff­nung ei­nes auf­rech­ten Afri­kas. Ge­bo­ren in Bor­deaux von ei­nem se­ne­ga­le­si­schen Va­ter und ei­ner ka­me­ru­ni­schen Mut­ter, er­lebte Diop Afrika we­ni­ger durch die Er­fah­rung ei­nes län­ge­ren Auf­ent­halts als viel­mehr durch Traum und Er­be, was der Macht ei­nes Wor­tes, das sich zum Echo der Lei­den und Re­vol­ten ei­nes gan­zen Kon­tin­ents zu ma­chen wuss­te, nichts nimmt.

Eine Poesie der Revolte

Die Po­e­sie Di­ops ist vor al­lem ein Schrei. Ein Schrei der Ver­wei­ge­rung an­ge­sichts der ko­lo­ni­a­len Un­ge­rech­tig­keit, ein Schmer­zens­schrei an­ge­sichts der De­mü­ti­gung sei­nes Vol­kes. In ei­nem di­rek­ten, von al­lem über­f­lüs­si­gen Schmuck be­frei­ten Stil schleu­dert der Dich­ter seine Wahr­hei­ten wie ebenso viele „Stö­ßel­schlä­ge“ her­aus, die nach sei­nen ei­ge­nen Wor­ten dazu be­stimmt sind, „die Trom­mel­felle de­rer zu durch­boh­ren, die es nicht hö­ren wol­len, und wie Peit­schen­hiebe auf die Ego­is­men und Kon­for­mis­men der Ord­nung zu knal­len“. Je­des Ge­dicht ist eine An­kla­ge­schrift, die die blu­tige Bi­lanz der Vor­mund­schaft­sära zieht. So pran­gert er in „Die Gei­er“ die Heu­che­lei der Zi­vi­li­sie­rungs­mis­sion an:

In je­ner Zeit
Mit Ge­brüll von Zi­vi­li­sa­tion
Mit Weih­was­ser auf do­mes­ti­zier­ten Stir­nen
Bau­ten die Geier im Schat­ten ih­rer Kral­len
Das blu­tige Mo­nu­ment der Vor­mund­schaft­sära.

Diop, Da­vid, Coups de pi­lon (Stö­ßel­schlä­ge), Pa­ris: Pré­sence af­ri­cai­ne, 1973.

Die Ge­walt ist all­ge­gen­wär­tig, nicht nur in der The­ma­tik, son­dern im Rhyth­mus des Sat­zes selbst, nüch­tern und schnei­dend wie eine Klin­ge. Das be­rühmte und la­ko­ni­sche Ge­dicht „Die Zeit des Mar­ty­ri­ums“ ist die er­grei­fendste Il­lus­tra­tion da­von, eine wahre Li­ta­nei der Ent­eig­nung und des ko­lo­ni­a­len Ver­bre­chens: „Der Weiße hat mei­nen Va­ter ge­tö­tet / Denn mein Va­ter war stolz / Der Weiße hat meine Mut­ter ver­ge­wal­tigt / Denn meine Mut­ter war schön“. Diese schmuck­lo­sen Ver­se, die dem Text seine durch­schla­gende Kraft ver­lei­hen, ha­ben man­che Kri­ti­ker ver­wir­ren kön­nen. Sana Ca­mara sieht darin bei­spiels­weise eine „Ein­fach­heit des Stils, die an Ar­mut grenzt, auch wenn der Dich­ter ver­sucht, uns durch die Iro­nie der Er­eig­nisse zu fes­seln“. Doch ist es zwei­fel­los in die­ser Öko­no­mie der Mit­tel, die­ser Ver­wei­ge­rung des Künst­li­chen, dass die Bru­ta­li­tät der Aus­sage ih­ren Hö­he­punkt er­reicht.

Afrika im Herzen des Wortes

Wenn die Re­volte der Mo­tor sei­nes Schrei­bens ist, so ist Afrika des­sen See­le. Sie ist je­nes ide­a­li­sierte Mut­ter­land, er­blickt durch das Prisma von Nost­al­gie und Traum. Die ein­lei­tende Apo­stro­phe des Ge­dichts „Afri­ka“ — „Afri­ka, mein Afrika“ — ist eine Er­klä­rung der Zu­ge­hö­rig­keit und Ab­stam­mung. Die­ses Afri­ka, er ge­steht, es „nie­mals ge­kannt“ zu ha­ben, aber sein Blick ist „vol­ler dei­nes Blu­tes“. Es ist ab­wech­selnd die lie­bende und ge­schmähte Mut­ter, die Tän­ze­rin mit dem Kör­per aus „schwa­r­zem Pfef­fer“, und die ge­liebte Frau, Rama Kam, de­ren sinn­li­che Schön­heit eine Feier der gan­zen Rasse ist.

In die­sem er­träum­ten Afrika schöpft der Dich­ter die Kraft der Hoff­nung. Auf die Ver­zweif­lung, die ihm der „Rü­cken, der sich beugt / Und sich nie­der­legt un­ter dem Ge­wicht der De­mut“ ein­flößt, ant­wor­tet eine Stim­me, pro­phe­tisch:

Un­ge­stü­mer Sohn, die­ser ro­buste und junge Baum
Die­ser Baum dort drü­ben
Herr­lich al­lein in­mit­ten wei­ßer und ver­welk­ter Blu­men
Das ist Afri­ka, dein Afri­ka, das nach­wächst
Das ge­dul­dig hart­nä­ckig nach­wächst
Und des­sen Früchte nach und nach
Den bit­te­ren Ge­schmack der Frei­heit ha­ben.

Diop, Da­vid, Coups de pi­lon (Stö­ßel­schlä­ge), Pa­ris: Pré­sence af­ri­cai­ne, 1973.

Ein militanter Humanismus

Das Werk Di­ops auf einen „an­ti­ras­sis­ti­schen Ras­sis­mus2Sar­tre, Jean-Paul, « Or­phée noir » (Schwa­r­zer Or­pheus), Vor­wort zu l’An­tho­lo­gie de la nou­velle poé­sie nè­gre et mal­ga­che de langue française (An­tho­lo­gie der neuen fran­zö­sisch­spra­chi­gen Ne­ger- und ma­da­gas­si­schen Dich­tung) von L. S. Seng­hor, Pa­ris: Pres­ses uni­ver­si­tai­res de Fran­ce, 1948. zu re­du­zie­ren, um Sar­tres For­mu­lie­rung auf­zu­grei­fen, hieße seine uni­ver­selle Trag­weite zu ver­ken­nen. Wenn die An­pran­ge­rung der Un­ter­drü­ckung des Schwa­r­zen der Aus­gangs­punkt ist, um­fasst Di­ops Kampf alle Ver­damm­ten die­ser Er­de. Seine Po­e­sie ist ein Ge­schrei, das sich „von Afrika bis zu den Ame­ri­kas“ er­hebt, und seine So­li­da­ri­tät er­streckt sich auf den „Ha­fe­n­a­r­bei­ter von Suez und den Kuli von Ha­noi“, auf den „in der Reis­feld lie­gen­den Vi­et­na­me­sen“ und den „Zwangs­a­r­bei­ter vom Kon­go, Bru­der des Ge­lynch­ten von At­lanta“.

Diese Brü­der­lich­keit im Lei­den und im Kampf ist das Zei­chen ei­nes tie­fen Hu­ma­nis­mus. Der Dich­ter be­gnügt sich nicht da­mit zu ver­flu­chen, er ruft zum kol­lek­ti­ven Han­deln auf, zur ein­mü­ti­gen Ver­wei­ge­rung, ver­kör­pert durch die ab­schlie­ßende Auf­for­de­rung von „Her­aus­for­de­rung an die Ge­wal­t“: „Er­hebe dich und schreie: NEIN!“. Denn letzt­end­lich, jen­seits der Ge­walt des Wor­tes, ist der Ge­sang Da­vid Di­ops „al­lein von der Liebe ge­lei­tet“, der Liebe zu ei­nem freien Afrika in­mit­ten ei­ner ver­söhn­ten Mensch­heit.

Das Werk Da­vid Di­ops, in vol­ler Blüte durch einen tra­gi­schen Tod da­hin­ge­rafft, der uns sei­ner kom­men­den Ma­nu­skripte be­raub­te, be­wahrt eine bren­nende Ak­tu­a­li­tät. Léo­pold Sédar Seng­hor, sein ehe­ma­li­ger Leh­rer, hoff­te, dass der Dich­ter mit dem Al­ter „mensch­li­cher wer­den“ wür­de. Man kann be­haup­ten, dass die­ser Hu­ma­nis­mus be­reits im Her­zen sei­ner Re­volte war. Coups de pi­lon (Stö­ßel­schlä­ge) bleibt ein we­sent­li­cher Text, ein klas­si­sches Werk der afri­ka­ni­schen Po­e­sie, ein Via­ti­kum für alle nach Ge­rech­tig­keit und Frei­heit stre­ben­den Ju­gend­en.

Das ist schon viel für ein im Grunde ge­nom­men recht be­grenz­tes Werk, für ein ers­tes und — lei­der — letz­tes Werk. Aber es gibt Tex­te, die zum Kern der Dinge vor­drin­gen und zum gan­zen We­sen spre­chen. Ly­risch, ge­fühl­voll, Aus­druck ei­ner per­sön­li­chen For­de­rung und ei­nes per­sön­li­chen Zorns, ist diese „schwer ge­gen die Chi­mä­ren ge­schleu­der­te“ Po­e­sie […] wirk­lich eine von de­nen, die ewig, um Cé­saire zu pla­gi­ie­ren, „die La­kaien der Ord­nung“ [das heißt die Agen­ten der Un­ter­drü­ckung] her­aus­for­dern wer­den, von de­nen, die […] im­mer hart­nä­ckig daran er­in­nern wer­den, dass „das Werk des Men­schen ge­rade erst be­gon­nen hat“, dass das Glück im­mer zu er­obern ist, schö­ner und stär­ker.

So­ciété af­ri­caine de cul­ture (Hrs­g.), Da­vid Diop, 1927-1960 : té­moi­g­na­ges, étu­des (Da­vid Diop, 1927-1960: Zeug­nis­se, Stu­dien), Pa­ris: Pré­sence af­ri­cai­ne, 1983.